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epd Film 9/2001 Kritik
Haus Bellomont
"Miss Bart war eine Erscheinung, die sogar einen eiligen Vorstadtreisenden auf seinem Weg zum letzten Zug anhalten ließ." So lesen wir auf den ersten Seiten von Edith Whartons Roman "The House of Mirth". Im New York des Jahres 1905 ist Lily Bart eine selbstbewusste Frau, die die Spielregeln der Gesellschaft durchschaut. "Von uns erwartet man, dass wir hübsch und gut gekleidet sind, bis wir umfallen - und wenn wir das nicht allein durchhalten können, müssen wir uns einen Teilhaber für das Geschäft suchen", sagt sie ihrem Gegenüber offen ins Gesicht. Aber solche Offenheit ist eher die Ausnahme, auch für Lily Bart, denn für eine wirkliche Unabhängigkeit fehlt ihr die finanzielle Grundlage: Die 29-jährige Waise ist auf die Zuwendungen ihrer Tante angewiesen. Mag sie ihre Umgebung auch mit gelegentlichen spöttischen Bemerkungen provozieren, so möchte sie doch dazugehören. "Sie durchschaute seine Motive, denn ihr eigenes Vorgehen wurde von ebenso hübschen Berechnungen gesteuert."
Lily Bart weiß, dass sie ihre Existenz langfristig nur durch eines sichern kann, nämlich sich "einen Teilhaber für das Geschäft zu suchen" - einen Mann mit Geld zu heiraten. Wären da nur nicht ihr Stolz und ihr Selbstbewusstsein. "Miss Bart hatte die Gabe, einen verborgenen Gedankengang zu verfolgen, während sie an der Oberfläche der Unterhaltung mit Leichtigkeit dahinzugleiten schien, und in diesem Fall nahm ihr gedanklicher Abstecher die Gestalt eines schnellen Überblicks von Mr. Percy Gryces Zukunft in Verbindung mit ihrer eigenen an."
Spätestens, als sie beim Bridge-Spiel (dem sie wenig abgewinnen kann, aber ihre Teilnahme wird nun einmal erwartet) 9.000 Dollar Schulden angehäuft hat und ihre Tante sich weigert, diese zu übernehmen, sitzt Lily in der Falle und begreift, dass sie nur auf Kredit gelebt hat - einen Kredit, den sie in Wirklichkeit gar nicht hat. Glaubt sie, Gus Trenor, der Gatte ihrer besten Freundin, verwalte ihr Geld und zahle ihr die Zinsen aus, so muss sie irgendwann feststellen, dass jene Beträge in Wirklichkeit sein Geld waren - für das er jetzt eine Gegenleistung in Form sexueller Gefälligkeiten erwartet. Als Lilys Tante stirbt, hinterlässt sie ihr nur einen Bruchteil des erwarteten Vermögens - die 10.000 Dollar reichen gerade aus, um ihre Spielschulden zu bezahlen. Aber auch angesichts dessen ist Lily noch nicht bereit, den einfachen Weg zu gehen. Das Heiratsangebot des neureichen Sim Rosedale (der selbst zugibt, er wisse, dass sie ihn nicht liebe) schlägt sie aus und wird dann Opfer einer Intrige, als eine "Freundin" sie des Ehebruchs mit ihrem Mann beschuldigt, nur um von der eigenen Untreue abzulenken. Lily könnte sich retten durch eine Enthüllung - doch die würde nicht nur jene Intrigantin zerstören, die sie in diese Lage gebracht hat, sondern auch den Mann, den Lily Bart heimlich liebt. So sieht sie am Ende nur einen Ausweg aus diesem Schlamassel ...
Edith Whartons Roman ist voll von inneren Monologen, die dem Leser sofort die Spielregeln dieser Gesellschaft nahe bringen - der Kinogänger hingegen muss sehr genau hinschauen und hinhören, um sie zu begreifen. Etwa den kurzen Moment der Unsicherheit in Lilys Stimme, wenn sie zu Beginn von einem Tee bei dem Anwalt Lawrence Selden kommt und im Hausflur Mr. Rosedale begegnet, dem sie erklärt, sie hätte ihren Schneider aufgesucht. Woraufhin Rosedale, mit einer leichten Ironie in seiner Stimme, erwidert, er habe gar nicht gewusst, dass hier Schneider wohnen - und sich als Besitzer des Gebäudes zu erkennen gibt. Ich vermute, solche Momente hat die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger gemeint, als sie in ihrem "Viennale-Tagebuch" notierte, "Davies filmt die Satzzeichen, das Unausgesprochene, die dunklen Flächen zwischen den Zeilen ..."
The House of Mirth ist der Gattung nach ein Kostümfilm, aber Terence Davies verweigert sich dem Schwelgen in der Ausstattung und vor allem den Massenszenen. Er konzentriert sich vielmehr ganz auf seine Figuren. Wie in einem Brennglas erscheinen sie dem Zuschauer mit ihren Eitelkeiten. Etwas Sprödes, Spartanisches hat der Film (den Davies für nur 16 Millionen DM mit überwiegend amerikanischen Darstellern in Glasgow gedreht hat), wozu auch der Verzicht auf untermalende Musik (nur einige klassische Kompositionen finden Verwendung) beiträgt. Terence Davies, bekanntgeworden durch seine autobiographischen Filme wie Distant Voices, Still Lives und The Long Day Closes, mit denen er seine eigene Kindheit als jüngstes von zehn Kindern einer Liverpooler Arbeiterfamilie und besonders das Leiden an der Strenge und Rücksichtslosigkeit des Vaters aufarbeitete, betritt mit The House of Mirth Neuland. War sein vorangegangener Film The Neon Bible in der Adaptation einer fremden Vorlage, dem gleichnamigen Roman des amerikanischen Romanciers John Kennedy Toole, schon ein Stück weit entfernt von den früheren Filmen, so blieb er diesen in Sujet (eine Kindheit) und filmischer Annäherung (in Form der elliptischen Erinnerung) doch treu.
Mit The House of Mirth legt er nun erstmals einen linear erzählten Film vor, der zugleich zeigt, was im Genre des Kostümsfilms möglich ist. Und der zudem durch seine schauspielerischen Leistungen besticht. Mag Davies auch glaubhaft versichern, nie eine Folge der "X-Files" gesehen zu haben, so wirkt die erste Einstellung, in der die Protagonistin, nur als Schattenriss erkennbar, aus dem Dampf einer Lokomotive auf den Zuschauer zukommt, wie eine Hommage an deren Darstellerin Gillian Anderson. Sie wurde als Agent Scully weltweit berühmt, vermag aber als Lily Bart die Erinnerungen an diese Figur ziemlich schnell abzustreifen - die jahrelange Verkörperung einer Figur, die ihre Emotionen stets im Griff hat, als Training für eine Figur, die das versucht und schließlich scheitert. Aber nicht nur bei der Hauptrolle hat man den Eindruck, Terence Davies hätte manche seiner Darsteller gegen ihr Image besetzt: Das plötzliche Umschlagen von (scheinbarer) Jovialität ins Gemeine bei Mr. Trenor wirkt noch eindringlicher, weil man das von Dan Aykroyd nicht gewohnt ist, während Laura Linney als intrigante Bertha Dorset das vollkommene Gegenteil ihres - bei allen Fehlern - liebenswerten Charakters in You Can Count On Me ist.
Frank Arnold
Start: 13.9. (D), 21.9. (A), 27.9. (CH).
The House of Mirth
Großbritannien 2000. R und B: Terence Davies (nach dem Roman von Edith Wharton). P: Olivia Stewart. K: Remi Adefarasin. Sch: Michael Parker. M: Adrian Johnston. T: Catherine Hodgson. A: Don Taylor, Diane Dancklefsen. Ko: Monica Howe. Sp: Stuart Murdoch. Pg: Three River/Glasgow Film Fund/The Arts Concil of England/Film Four/Diaphana/Granada/Kinowelt. V: Arthaus. L: 135. Da: Gillian Anderson (Lily Bart), Eric Stoltz (Lawrence Selden), Dan Aykroyd (Gus Trenor), Laura Linney (Bertha Dorset), Elizabeth McGovern (Carry Fisher), Anthony LaPaglia (Sim Rosedale), Terry Kiney (George Dorset).
ENDE
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